In der Regel ist der Stoffplan im Mathematikunterricht ziemlich voll und da kommt jetzt irgendwie auch noch Medienkompetenz dazu. Aus meiner Perspektive ist nicht diskutabel, ob Medienkompetenz im Mathematikunterricht vermittelt werden sollte. Die große Frage ist eher, wie man es schafft, die Entwicklung von Medienkompetenz nicht additiv oben auf zu klatschen, sondern sinnvoll in den Unterricht zu integrieren. Der Mathematikunterricht bietet dafür viele Ansatzpunkte und einen möchte ich hier am Beispiel von Häufigkeiten und Kreisdiagrammen skizzieren. Der Clou: weder die Lernenden noch die Lehrkraft benötigen dazu (zwingend) ein Gerät.

Um die Integration veranschaulichen zu können, will ich vorweg sehr knapp beschreiben, wie die Unterrichtseinheit aussah, bevor ich mir Gedanken über Medienkompetenz gemacht habe:

  1. In kleinen Plastikdosen haben die Lernenden immer wieder je 10 Reißzwecken geworfen und dabei gezählt, wie viele auf dem Kopf bzw. auf der Spitze liegen (absolute Häufigkeit).
  2. Der Anteil der Ergebnisses „Spitze“ und „Kopf“ von der Gesamtzahl der Würfe wurde gebildet (relative Häufigkeit) und in Prozent angegeben.
  3. Mit der relativen Häufigkeit kann der Kreiswinkel berechnet werden, der für ein Kreisdiagramm benötigt wird. Knackpunkt hierbei ist die Multiplikation der relativen Häufigkeit als Bruch mit 360°. Dazu muss ein entsprechender Term gebildet und (abhängig von der tatsächlichen relativen Häufigkeit) schriftlich multipliziert und dividiert werden.
  4. Das Kreisdiagramm wird gezeichnet und man übt dabei den Umgang mit Zirkel und Geodreieck.
  5. Weitere Themen für diese Diskussion sind
    • die Möglichkeiten und Grenzen der Diagrammform,
    • warum im Vergleich zweier Diagramme die relative Häufigkeit größer sein kann, obwohl die absolute Häufigkeit geringer ist,
    • das Gesetz der großen Zahlen mit einem addierten Klassenergebnis, der Grenzwertbegriff und der Unterschied zwischen der relativen Häufigkeit und der Wahrscheinlichkeit,
    • die Bedeutung von „Ausreißern“, also von individuellen Ergebnissen, die stark vom Klassendurchschnitt abweichen.

Da steckt schon eine ganze Menge Mathematik drin. Allerdings ist das Werfen von Reißzwecken doch ein sehr konstruiertes Beispiel ohne ernsthafte Relevanz für die Lebenswelt der  Lernenden. An dieser Stelle setze ich nun an, um den Medienkonsum der Lernenden zu thematisieren. Statt Reißzwecken zu werfen, dokumentieren die Lernenden eine Woche lang ihren persönlichen Medienkonsum in den Kategorien

  • Kommunikation – also das Chatten über Whatsapp, Facebook, Instagram, Telefonieren, Skypen, etc.
  • Arbeiten – also die Nutzung der Geräte in der oder für die Schule
  • Spielen und Unterhaltung – also Spiele am PC, der Konsole oder auf dem Smartphone, Videos schauen auf Netflix, Youtube, etc.
  • Sonstiges – alles, was nicht in die anderen Kategorien passt.

Die Nutzungsdauer in den einzelnen Kategorien wird täglich vor dem Schlafengehen in einer Tabelle eingetragen. Unterstützen kann dabei z.B. das Screentime-Feature von iOS. Bei mir sieht das aktuell so aus:

Dabei muss man allerdings bedenken, dass ich den Großteil meiner Digital-Zeit am PC sitze. Ich könnte dazu mit einer Stoppuhr arbeiten. Für die Jugendlichen ist der Wert auf dem Tablet/Smartphone vermutlich aussagekräftiger. Nach der Erfassung der täglichen Stunden wird die Summe über die Woche gebildet. Hier befinden wir uns wieder im Bereich der absoluten und relativen Häufigkeiten. Und eigentlich hatte ich ja angekündigt, dass man hierfür keine digitalen Geräte braucht. Das stimmt in so fern, dass man die Nutzung der Geräte analysiert, die man sowieso täglich benutzt. Ich als Lehrkraft muss mir also keine Gedanken darüber machen, woher die Geräte kommen.

Anknüpfend an die absoluten und relativen Häufigkeiten der Lernenden verläuft aus mathematischer Perspektive der Rest analog zum bisherigen Beispiel. Es werden Kreiswinkel berechnet, Kreisdiagramme gezeichnet, Unterschiede zwischen den Diagrammen der Lernenden diskutiert. Sie stellen fest, dass im eigenen Diagramm ein viel größeres Kuchenstück für die Playstation reserviert ist, als in dem Diagramm des Nachbar, obwohl der viel mehr zockt. Man kann einen Klassendurchschnitt bilden und sich selbst mit diesem Vergleichen. Was nicht ganz so gut dabei raus kommt, ist die Bedeutung des Zufallsversuchs und das Gesetz der großen Zahlen. Da das Thema aber sehr nah an der Lebenswelt der Lernenden ist, starten nun total spannende Diskussionen:

  • Wie viele Stunden zocken am Tag sind in Ordnung?
  • Welche Auswirkungen könnte übermäßiger Medienkonsum für die Gesundheit, das Familienleben und soziale Kontakte haben?
  • Was macht mein Nachbar den ganzen Tag, wenn er so wenig Zeit mit seinem Smartphone verbringt?
  • Welche Möglichkeiten habe ich, meinen eigenen Medienkonsum bewusst zu steuern? (hier kommt wieder Apples Screentime-Funktion ins Spiel)

Im Kern trifft diese Diskussion Bereiche der der Medienkompetenz nach KMK. Ich nenne mal ein paar Beispiele:

  • 6.2.2. Chancen und Risiken des Mediengebrauchs in unterschiedlichen Lebensbereichen erkennen, eigenen Mediengebrauch reflektieren und ggf. modifizieren
  • 2.5.1 Medienerfahrungen weitergeben und in kommunikative Prozesse einbringen
  • 2.5.3 Als Selbstbestimmter Bürger aktiv an der Gesellschaft teilhaben
  • 4.3.1 Suchtgefahren vermeiden, sich selbst und andere vor möglichen Gefahren schützen
  • 4.3.2 Digitale Technologien gesundheitsbewusst einsetzen
  • 4.3.3 Digitale Technologien für soziales Wohlergehen und Eingliederung nutzen

Außerdem gibt es die Kompetenzbereiche, die sich zwischen Medienkompetenz und mathematischen Kompetenzen überschneiden:

  • Vergleich der Diagramme und Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen, Unterschied absolute und relative Häufigkeit
    1.2.1 Informationen und Daten analysieren, interpretieren und kritisch bewerten
  • Diskussion über die Qualität der Erhebung und ob alle Schüler die Tabelle gewissenhaft geführt haben
    1.2.2 Informationsquellen analysieren und kritisch bewerten

Stehen mir dann doch entsprechende Endgeräte zur Verfügung, erweitern sich meine Möglichkeiten erneut:

  • Nutzen einer Tabellenkalkulation zur Berechnung der Ergebnisse und dem Erzeugen des Kreisdiagramms.
    3.1 Entwickeln und produzieren
  • Integrieren des erzeugten Kreisdiagramms in eine Präsentation
    3.2 Weiterverarbeitung und integrieren
  • Nutzen der Screentime-Funktion und der automatischen Einteilung in die Kategorien „Unterhaltung“ und „Produktivität“ – Wohin gehört die Zeit, in der ich ein Youtube-Video zum Mathematikunterricht schaue?
    5.5.1 Algorithmische Strukturen in digitalen Tools erkennen und formulieren

In dieser Aufgabe steckt also auch unglaublich viel Potential für die Entwicklung von Medienkompetenz. Fast schon zu viel? Hier sollte man didaktisch reduzieren und Akzente setzen. Außerdem ergibt sich sehr viel aus der Diskussion mit den Lernenden. Vermutlich sogar noch mehr, als ich hier angedacht habe.

Ich hoffe dieses Beispiel kann zeigen, wie man mit kleinen Änderungen am Unterricht einen sehr wertvollen Beitrag zur Entwicklung von Medienkompetenz leisten kann. Dabei muss die Lehrkraft kein Experte im Thema Konsolen-Spiele und Youtube-Idole sein. Vielmehr lebt der Unterricht davon, dass die persönlichen Interessen der Lernenden hier auf Mathematik treffen und sie zum kritischen Nachdenken angeregt werden. Für mich persönlich war es am spannendsten, aus erster Hand zu erfahren, wie die Gerade-Mal-Teenager tatsächlich ihre Freizeit verbringen. Und mein ehrliches Interesse daran wurde von den Lernenden dankend wahrgenommen.

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