Das Lernen. Unendliche Weiten. Wir Schreiben das Jahr 2019 und dies… ist eine zentrale Herausforderung, an der sich Pädagogen die Köpfe zerbrechen. Es gibt so viel zu lernen, dass ein Menschenleben dafür nicht ausreicht. Manche glaube, man müsse gar nichts mehr lernen, da ja alles im Internet steht. Gleichzeitig muss Wissen immer hinterfragt werden, da morgen vielleicht Pluto wieder zum Planeten wird. Als Lehrer stelle ich mir folglich die Gretchen-Frage: Wie soll ich es mit dem Lernen halten? Was sollen die Lernenden aus meinem Unterricht mitnehmen? Und wie kann das gelingen? Sicher kann ich keine ultimative Antwort darauf geben. Aber eine Perspektive.
Das Drei-Speicher-Modell nach Atkinson und Shiffrin unterscheidet das sensorische Gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das Langzeitgedächtnis. Woher ich das weiß? Ich habe auf Wikipedia nachgeschaut. Also war meine Zeit an der Uni, wo Professor Ulrich Glowalla mir das im zweiten Semester Psychologie „vorgelesen“ hat, für umsonst? Ohne diese Vorlesung hätte ich vermutlich noch nie etwas von einem sensorischen Gedächtnis oder dem Drei-Speicher-Modell gehört. Habe ich nun nachhaltig gelernt? Immerhin musste ich nachschlagen, um die drei Speicher konkret und richtig zu bennnen. Aber irgendwie war mir das Konzept hinter dem Modell doch klar.
Der Transfer vom Kurz- in das Langzeitgedächtnis erfolgt durch regelmäßiges Wiederholen. Ich sage gerne, der Mensch sei ein Gewohnheitstier. Mache ich etwas durch Wiederholung zur Gewohnheit, werde ich gut darin und die Einzelheiten brennen sich in mein Gedächtnis ein. Je länger ich eine Information ruhen lasse, umso mehr verblasst sie wiederum in meinem Gedächtnis. Gleichzeitig spielt das Netzwerk aus Synapsen eine entscheidende Rolle. Es bringt mich nicht weiter, immer wieder exakt das gleiche zu tun. Vielmehr möchte ich eine Information in so vielen Kontexten wie möglich beleuchten, um sie gut in meinem Gedächtnis zu vernetzen. Nur so stehen mir für ein konkretes Problem letztlich auch viele Informationen zur Verfügung, die mir bei der Lösung helfen können.
Welche Bedeutung hat das Lernen nun im Kontext der Digitalisierung? In einer Welt, in der mir über Suchmaschinen mehr Informationen zur Verfügung stehen, als ich je lernen könnte, sind Allgemeinwissen und Fachwissen für mich von zentralem Interesse. Aber nur in gewissem Kontext. Als Mathematiklehrer spreche ich täglich über die verschiedensten Inhalte und Problemstellungen, die im Unterricht eben thematisiert werden müssen. Würde ich jedes Mal im Internet recherchieren müssen, wie die Formel für den Satz des Pytaghoras lautet, könnte ich meine Arbeit nicht ordentlich erledigen. Gleiches gilt für meine Lernenden. Sie könnten die Menge der Aufgaben im Abitur niemals bewältigen, wenn sie jede einzelne Formel in der Formelsammlung nachschlagen und neu durchdenken müssten. Für effizientes Arbeiten sind wir auf Fachwissen angewiesen. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass ich die Formel für die partielle Integration jedes mal lieber nachschlage, bevor ich sie falsch an die Tafel schreibe. Ich brauche sie zu selten, als dass ich sie so sicher auswendig könnte. Sie ist für mich bisher nicht zur Gewohnheit geworden. Sehr wohl bekannt ist mir aber die Idee hinter dieser Formel. Ich weiß genau, wann ich sie einsetzen muss und wann ich mit diesem Rechenalgorithmus nicht weiter komme.
Was ist also das Ziel meines Unterrichts? Was sollen die Lernenden können, wenn ich sie entlasse? Was sind die zentralen Informationen, die ins Langzeitgedächtnis übergehen müssen? Zur Veranschaulichung soll das folgende Modell dienen:
Die Lernenden sollen detaillierte Informationen zu den Themen im Langzeitgedächtnis speichern, mit denen sie aktuell arbeiten. Das betrifft die Informationen, die zur Gewohnheit werden müssen, um effizient arbeiten zu können. Das sind so banale Informationen wie der Name ihres Mathematiklehrers und das Passwort für ihr Smartphone. Sie sollen aber auch Wissen erlangen, das zum Lösen der momentan aktuellen Aufgaben notwendig ist. Ist das Thema das Lösen von Gleichungen, müssen sie jederzeit Parat haben, wie man Brüche addiert und multipliziert. Hier beobachte ich einen Knackpunkt in der Oberstufe. Das Lösen von Termen und Gleichungen ist entscheidende Grundlage für sämtliche Themen des Abiturs. Allerdings haben viele Lernende es nicht genug verinnerlicht oder zur Gewohnheit gemacht. Das Problem dabei ist allerdings nicht, dass es nicht intensiv genug im Unterricht behandelt wurde. Ich wette, (fast) alle Abiturienten waren zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Schul-Karriere mal in der Lage dazu, den Wert eines Terms zu bestimmen und Gleichungen zu lösen. Allerdings wurde es nicht regelmäßig wiederholt und die Informationen sind wieder verblasst. Solche grundlegenden Fertigkeiten müssen für mich deshalb Gegenstand jeder Unterrichtseinheit und jeder Leistungsüberprüfung sein. Eine tolle Methode dafür sind Wochenaufgaben. Hier werden Hausaufgaben unabhängig vom aktuellen Unterricht gestellt, in denen die Lernenden jede Woche unter anderem ein oder zwei Aufgaben zur Bruchrechnung oder Termberechnung lösen müssen. Der zeitliche Aufwand ist nicht groß, da es nur wenige Aufgaben sind. Der Aufwand für die Lehrkraft ist überschaubar, da man die Aufgaben jährlich wieder verwenden kann. Zur Verbindlichkeit sammelt man wöchentlich 3 Hausaufgaben ein und erhält dadurch über das Jahr verteilt eine Grundlage für die Notengebung, ohne übermäßigen Korrekturaufwand zu haben. Gleichzeitig schleift sich das Rechenverfahren unabhängig vom aktuellen Unterrichtsthema ins Langzeitgedächtnis der Lernenden.
Neben den Informationen und Verfahren, die fachspezifisch zum aktuellen Thema benötigt werden, müssen auch Methoden beherrscht werden. Wie gehe ich an ein Problem heran? Wie finde ich neue Zugänge? Wie und wo finde ich Informationen, die mir fehlen? Wie kollaboriere ich mit anderen zielgerichtet? Wie strukturiere ich meine Arbeitsprozesse? Wie bringe ich mir selbst etwas bei? Wie präsentiere ich meine Ergebnisse? usw. Manche dieser Methoden brauche ich auf einer täglichen Basis. Andere beschreiben eher langfristige Prozesse. So etwa die Frage, wie man sich auf einen Schulabschluss oder eine Prüfungssituation vorbereitet.
Und letztlich gibt es noch die Modelle, Konzepte und Ideen, die im Langzeitgedächtnis vor sich hinschlummern, bis sie tatsächlich gebraucht werden. So spielt gerade in der Berechnung von Termen das Rechnen mit Kreiswinkeln keine übergeordnete Rolle. Enthält allerdings meine Sachaufgabe ein Ergbnis mit Prozentsätzen, das ich grafisch darstellen möchte, können Kreiswinkel plötzlich nötig werden. Es ist also wichtig für mich zu wissen, wie man von einem Bruch zum Kreiswinkel kommt. Ich muss allerdings nicht unbedingt eine Formel dafür aufsagen können. Diese kann ich mir dann gegebenenfalls aus dem Kontext erschließen, wenn ich weiß, dass ich ja einen Anteil von 360° suche.
Welche Konsequenzen ziehe ich nun für meinen Unterricht? Wie sorge ich für nachhaltiges Lernen bei meinen Schülern? Ich habe versucht, ein Fazit in 4 Punkten zu formulieren:
- Ich plane langfristig Wiederholungen ein. Rechnen mit Termen ist für mich ein zentrales Element der Mathematik (und des Schulabschlusses) und wird ab der fünften Klasse so regelmäßig thematisiert, dass die Lernenden es später im Schlaf können.
- Ich setze Schwerpunkte. Ich erwarte nicht, dass meine Lernenden zum Abitur die Kongruenzsätze vollständig herbeten können. Für mich ist dieser Inhalt ein Gefäß, um sauberes Beweisen und Logik innerhalb der Mathematik zu lernen. Der regelmäßig wiederholende Inhalt ist in diesem Zusammenhang also das Beweisen, nicht die Kongruenzsätze.
- Ich unterrichte für Verständnis. Viele Inhalte der Mathematik verabschieden sich über kurz oder lang wieder aus dem Gedächtnis der Lernenden. Wichtig sind die kleinen und großen Aha-Momenten, in denen sie Einblick in die zugrundeliegenden Ideen hinter der Mathematik bekommen. Die Lernenden müssen nicht bei jedem Problem sofort die Lösung kennen. Aber sie müssen Zugriff auf ein breites Repertoire an Lösungsideen haben, mit dem sie dann an die Aufgabe herangehen können. Und wenn sie einen guten Lösungsansatz gefunden haben, können sie sich gerne im Lernvideo auf Youtube erklären lassen, wie man diesen Ansatz Schritt für Schritt durchrechnet und das auf ihr eigenes Problem anwenden.
Den wichtigsten Punkt habe ich mir für den Schluss aufgehoben. Nach meinen Ausführungen wird ziemlich deutlich, dass Wissen verblasst, wenn man es nicht regelmäßig wiederholt. Als Sportlehrer wird mir das besonders schnell klar: Fitness kann ich antrainieren. Mache ich nicht regelmäßig Sport, ist davon in einem Jahr nichts mehr übrig. Deshalb ist das zentrale Ziel des Sportunterrichts, die Lernenden mit Hilfe der sechs pädagogischen Perspektiven zum lebenslangen Sporttreiben zu motivieren. Das gleiche gilt für die Mathematik.
- Ich versuche den Lernenden Freude an Mathematik zu vermitteln. Denn nur dann, wenn ich sie für Mathematik begeistern kann, werden sie sich auch nach der Schule dafür interessieren und nur dann wird langfristig etwas hängen bleiben. Außerdem bleibt bereits im Unterricht umso mehr hängen, je mehr Freude die Lernenden am Lernen haben. Im Umkehrschluss heißt das: Frust vermeiden – Niemand darf ausgegrenzt oder ausgelacht werden. Fehlerkultur – Jeder muss sich trauen, seine Gedanken zu äußern, auch wenn man nicht zu 100% davon überzeugt ist, dass man richtig lieg. Differenzierung – Niemand darf aufgrund einer viel zu schweren oder viel zu leichten Aufgabe genervt von Lernen sein. Kooperation – Gegenseitige Unterstützung bringt ein Gemeinschaftsgefühl und Freude am Lernen. Ich versuche das Staunen und die Aha-Momente in den Unterricht zu holen. Vielleicht klappt das durch einen mathematischen Trick oder eine tolle Visualisierung. Vielleicht klappt das mit einer App, die eine neue Perspektive zulässt. Vielleicht klappt es durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Auf jeden Fall klappt es nur, wenn ich als Lehrkraft auch diese Leidenschaft für das Fach zeige.
Nachhaltiges Lernen funktioniert für mich nur mit Freude am Lernen. Freude an den Dingen, die man tut. Freude an den eigenen Gewohnheiten. Neugierde, Wissbegierigkeit und der Wunsch nach Weiterentwicklung müssen zur Gewohnheit werden. Wenn ich das irgendwie schaffe, haben meine Schülerinnen und Schüler für mich das Lernziel erreicht.
Dieser Beitrag ist im Kontext der Blogparade der Bildungspunks zum Thema „Nachhaltigkeit – wie geht das beim Lernen?“ entstanden. Dort finden sich weitere lesenwerte Einträge zum Thema.
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